Abenteuer Kenia:
Rückblickend auf die immer wieder lehrreichen Vertretungsstunden, in denen Frau Jäger uns erste Einblicke in die derzeitige Situation Kenias vermittelte, schien der Gedanke, tatsächlich einmal dorthin zu reisen und aktiv zu helfen, zunächst noch sehr fern. Je näher das Abi rückte, desto mehr konkretisierten sich schließlich Gedanken, Kenia persönlich kennen zu lernen. Anders als bei Emine, stand Afrika eigentlich nicht im Fokus meiner Reisepläne. Andererseits beschäftigten mich die Bilder und Erzählungen von Frau Jäger zu Ostafrika und ihrem Hilfsprojekt. Nach bestandenem Abitur drängte sich die Frage auf: wieso die Chance nicht nutzen und das Ganze mit eigenen Augen ansehen?
Zeitnah entwickelten sich aus diesem Gedanken erste konkretere Umsetzungsideen, wenig später dann ein fester Plan. Am 24.11.17 sollte es schließlich losgehen. Voller Tatendrang und freudigen Erwartungen stand ich am Flughafen Tegel, verabschiedete mich von meinen Liebsten, um das Abenteuer „Afrika“ konkret werden zu lassen. 14 Stunden später empfing mich die strahlende Linet mit offenen Armen und großer Freude am Flughafen in Kisumu. Auch die Ankunft im Dorf Nyakwaka fiel sehr herzlich aus, lediglich die Kinder, die erst vor ein paar Tagen aus der Schule über die Weihnachtsferien zurückgekommen sind, waren zunächst noch schüchtern und zurückhaltend. Evelyne und Linet versorgten mich zur Begrüßung großzügig und fürsorglich mit Saft, Obst und Chapati, einer kenianischen Spezialität in der Art eines Teigfladens. Die erste Tour durchs Dorf machte mich mit meiner neuen Umgebung etwas vertrauter, dennoch blieb mir zunächst Vieles fremd. Nach einer kalten Dusche bin ich dann erleichtert ins Bett gefallen. …worauf hatte ich mich da eingelassen?
An das Dorfleben und seinen Alltag habe ich mich schnell gewöhnt. Besonders hervorzuheben sind hier die vielen ausgiebigen Gespräche, die ich besonders mit den Frauen und Mädchen geführt habe. Freude bereitete immer auch das gemeinsame Kochen und Essen, die langen Spaziergänge, der Sonnenuntergang am Grenzfluss, schließlich und vor allem auch die für mich neue und auch etwas ungewohnte afrikanische Musik der Jugendlichen. Michael, der nach den Ferien Form 2 besuchen sollte, was hier der 10. Klasse entspricht, habe ich regelmäßig Nachhilfe erteilt, mit den kleineren Kindern aus dem Dorf habe ich gespielt, die Sprache der Einheimischen begann ich zu lernen. Besonderen Spaß machte es mir, den Anderen deutsche Lieder und moderne Spiele beizubringen, im Alltag übernahm ich bereitwillig die anstehenden Aufgaben im Dorf. Dazu gehört zum Beispiel Wasser pumpen und tragen, spülen, fegen und wischen, waschen, kochen und einkaufen gehen. Für Kleinigkeiten, wie beispielsweise Milch, Sukumawiki oder Toast sind wir ins 15 min fußläufig entfernte M’luanda gelaufen, für umfangreichere Einkäufe bin ich mit Linet nach Busia, der nächsten größeren Stadt, in einen Supermarkt gefahren. Das war immer ein kleines Abenteuer mit den dortigen öffentlichen Verkehrsmitteln sprich Mopedtaxen, den sogenannten Piki Pikis und Kleinbussen, vor Ort als Matatu bekannt, zu fahren. In diesen Kleinbussen sitzt man zusammengepfercht, ihre Sicherheit ist nur eingeschränkt gegeben. Während meiner Wochen im Dorf war die Zeit der Maisernte. Mais ist das wichtigste Grundnahrungsmittel, ob als Futter für die Tiere, geröstet oder zu Maismehl verarbeitet, täglich gab es Mais. Einen Monat lang waren wir damit beschäftigt, den Mais zu ernten, zu trocknen und die Körner mit der Hand vom Kolben zu entfernen. Die getrockneten Maiskörner wurden dann in der vom Verein gestellten Posho Mill gemahlen. Aus dem Mehl und aus Wasser wurde Ugali aufgekocht.
Besonders beschäftigt haben wir uns auch mit dem Bau neuer Häuser. Mit meiner Ankunft begann das Projekt einer neuen Küche und später initiierte ich den Bau eines Schlafhauses für die beiden Mädchen Melvine und Jedline, die vorher ihre Matratzen bei den Jungs aufbewahrten und zum Schlafen im Wohn- und Esszimmer ausbreiteten. Die Arbeit begann mit dem Fällen von dünnen Bäumen, aus denen ein schachbrettartiges Grundgerüst gebaut wurde. Die Stabilisierung erfolgte durch Nägel und tiefe Löcher, in denen die Stämme eingepflanzt wurden. Für das Dach konnte wir wählen zwischen modernem, aber auch teurerem Wellblech oder Grasschindeln – die Küche bekam ein Wellblechdach, das Haus der Mädchen eines aus Gras. Als letztes mussten Wände her, dazu wurden alle kräftigen Jungs aus der Nachbarschaft zusammengetrommelt, die aus Wasser und gelockertem Boden eine Art Lehm kreierten, den sie dann zwischen den Holzbalken anbrachten. Nachdem diese Schicht komplett trocken war, erfolgte eine zweite Schicht, die vor allem dazu beitrug eine glatte, ebene Oberfläche zu schaffen. Das Ganze musste eine weitere Woche trocknen, ehe es ausreichend gehärtet war.
Mitte Dezember hieß es für mich schon temporär Abschied nehmen vom Dorf und ich flog in die Hauptstadt Nairobi, um dort meine Eltern und beiden jüngeren Brüder zu einer Safari zu treffen. Innerhalb einer Woche ging es durch drei verschiedene Gebiete, Lake Nakuru, Lake Naivasha und den Nationalpark Masai Maara. Wir sahen unter anderem die „Big Five“ – Löwen, Elefanten, Giraffen, Nashörner und Leoparden – aber auch Geparden, Büffel, Antilopen, Gazellen, Zebras, Wasserböcke, Affen und diverse Vogelarten. Ansonsten stand auf dem Programm der Besuch eines Masaii-Dorfes, bei dem wir deren traditionellen Gesängen lauschten, Gewänder bewunderten und ihre interessante Lebensweise erkunden durften. Nach weiteren spannenden Einblicken in andere Teile des Landes Kenia ging es in den Weihnachtsfeiertagen und meinem Geburtstag zurück ins Dorf. Für mich und meine Familie war der Wechsel von luxuriösen Lodges zu Lehmhütten ohne Strom und fließend Wasser eine erhebliche Umstellung. Nach einer herzlichen Begrüßung und einer Besichtigung des Geländes, saßen alle beim Essen zusammen und haben sich ausgelassen unterhalten. Dies Männer und Jungs fanden schnell eine gemeinsame Leidenschaft – Fußball unter Bäumen, auf Wiesen und Steppen, mit und ohne Schuhwerk. Die Frauen begegneten sich beim Abwaschen, Kochen und Erzählen spannender Geschichten. Nach einem gemeinsamen Ausflug zum Viktoriasee, rückte mein Geburtstag immer näher. Puuuh, möchte ich meinen 18. Geburtstag wirklich so weit weg von zuhause und allen Traditionen oder auch ohne meine Freunde verbringen? Ich kann im Nachhinein sagen: Oh ja! Obwohl in Kenia Geburtstage oft nicht genau bekannt sind und auch nicht regelhaft gefeiert werden, wurden weder Kosten noch Mühen gescheut um mir einen unvergesslichen Tag zu bereiten. Der gesamte Wohnbereich wurde mit bunten Luftballons und Girlanden geschmückt, Melvine hielt eine berührende Rede und es wurde zur Feier des Tages ein Huhn geschlachtet. Meine Eltern besorgten Kuchen, Limonaden und Sekt aus Busia. Im Fokus des Festes standen, ganz im afrikanischen Sinne, Gesänge und Tänze. Schon Tage vorher studierte Melvine mit allen Mädchen aus dem Dorf Geburtstagslieder und Choreografien ein. Frauen und Männer, Mädchen und Jungen, alle beteiligten sich am Tanz und an einem durchweg fröhlichen und lustigen Miteinander. Nach einem leckeren Mittagessen und Kuchen für alle Kinder machten wir einen Spaziergang zum Fluss und genossen die letzten Sonnenstrahlen des Geburtstages und des Heiligen Abend. Zurück im Dorf aßen wir noch zusammen und fielen dann erschöpft, aber sehr glücklich ins Bett. Was für ein großer Tag!
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug – Weihnachtstage, dominiert von afrikanischem Kirchengesang und -tanz, gutem Essen und einer großen Bescherung, der Abschied meiner Familie und einem ruhigen, aber besinnlichem Jahreswechsel – sodass der erste Schultag immer näher rückte. Diese Zeit ist besteht hauptsächlich aus Eltern, die mit ihren Kindern die letzten Besorgungen für den großen „opening day“ machen. Als Internatsschüler braucht man von Schulsachen über eine Matratze bis hin zu Seife und Toilettenpapier alles – und das für drei ganze Monate.
Für mich stand am 06.01.2018 der erste Tag an der Clanne Academy in Funyula, einer privaten Grundschule, an. 500 Schüler im Alter von 3-19 Jahren werden an dieser Schule unterrichtet, 56 davon hielten sich permanent in der Schule auf. Ich übernachtete bei der Boarding Mistress teacherin Josseline in unmittelbarer Nähe zu den Mädchensälen. Ein typischer Schultag beginnt um 04:00, nach dem Aufstehen ging es direkt in die Klassenräume zum sogenannten „morning-prep“, bei dem sich Schüler selbstständig auf den folgenden Unterricht vorbereiteten. Nach einer kleinen Tasse Tee begann der eigentliche Unterricht um 7 Uhr nur unterbrochen von einer „tea-break“ um 10:00 und der Mittagspause um 13:15. Gegen 17 Uhr endete der offizielle Unterricht, doch vor allem die älteren Schüler verließen den Klassenraum meist erst gegen 21:30, wenn alle Hausaufgaben erledigt und alle Fächer nachbereitet wurden. Die einzige Abweichung stellte der Sonntag dar, doch auch sonntags wird nicht ausgeschlafen. Um 07:30 ging es mit dem Bus zum Gottesdienst. Der Rest des Tages stand zur freien Verfügung. Es wurde Fußball gespielt, Sport getrieben und viel gelacht. Mit den jüngeren Kindern, die noch nicht quasi ganztägig in den Schulalltag eingebunden waren, bildete ich eine Art Tanzgruppe. Mehrere Abende feilten wir zusammen an diversen Choreografien, die sowohl europäische Elemente als auch afrikanische Tanzstile beinhalteten. Unseren großen Auftritt hatten wir dann vor allen Schülern und Lehrern bei einer „Morning Assembly“.
Meine Hauptaufgabe in der Schule war das Unterrichten von Deutsch mit dem Ziel, dass alle Schüler sich begrüßen und vorstellen können, sowie einen Einblick in die deutsche Kultur bekommen konnten. Besonders Lieder haben es den meisten Kindern angetan, sehr oft haben wir z.B. „Zum Geburtstag viel Glück“ gesungen.
Ein schwieriges Thema, mit dem ich in der Schule konfrontiert wurde, war die nahezu täglich vollzogene Gewalt an Kindern. Zum Glück hat die Clanne Academy einen weltoffenen und engagierten „headteacher“, der, als ich den ersten Schock einigermaßen überwunden und das Gespräch gesucht habe, sich sehr interessiert meine Kritik und auch meine Gedanken zu alternativen Bestrafungsmöglichkeiten angehört hat. Ob sich wirklich etwas ändert, bleibt offen, dennoch habe ich mit mehreren Lehrern, aber auch Schülern geredet und ein Umdenken angeregt.
Nach vier spannendenden Wochen in der Schule ging es dann für meine letzten Tage in Kenia zurück ins Dorf. Noch ganz aufgewühlt von dem traurigen und sehr herzlichen Abschied in der Schule, wurde ich mit offenen Armen von Linet, Evelyne und Melvine mit meinem afrikanischen Lieblingsessen empfangen. Die letzten Tage verbrachten wir vor allem mit Geschichten erzählen bei gemütlichem Zusammensitzen und dann galt es schon wieder Abschied zu nehmen vom Dorf, meinen neuen Freunden und von Afrika. Nach gefühlt tausend Umarmungen und einigen Tränen ging es am 04.02.18 wieder im Auto zum Flughafen Kisumu. Im Rückflug ließ ich meine Reise noch einmal gedanklich Revue passieren. Ich bin allen dankbar, die es mir möglich gemacht haben, so viele unglaublich herzliche, außergewöhnliche, starke und vor allem lebensbejahende Menschen kennenzulernen, deren Lebenshintergründe dennoch oft belastend und furchtbar waren. Ich habe ein schönes, vielgestaltiges und spannendes Land bereist, seine Kultur, seine Historie und auch seine mannigfaltigen politischen Verstrickungen kennengelernt. Nicht zuletzt und vor allem habe ich viel über mich selbst gelernt.
Ein riesiges Dankeschön geht an Cati und Achim und ihren Verein Lively Sunrise e.V., die mir zu jeder Zeit mit Rat und Tat zur Seite standen und immer ein offenes Ohr hatten. Es bleibt eine klare Gewissheit: Kenia, ich muss dich wiedersehen!